Alkohol - von Stigma und Vorurteilen
Süchtig sind immer die anderen
Gemäss einer grossen Befragungsstudie trinken rund 85% der Schweizer Bevölkerung ab 15 Jahren mehr oder weniger regelmässig Alkohol. Rund 20% der Befragten weisen zudem einen risikoreichen Alkoholkonsum auf. (1) Doch obwohl oder vielleicht gerade weil Alkohol in unserer Gesellschaft so fest verankert ist, tun wir uns schwer im Umgang mit jenen, die ihren Konsum nicht im Griff haben. Unser Verhalten gegenüber Menschen mit problematischem Alkoholkonsum ist geprägt von Scham, Stigmatisierung und Ausgrenzung. Die Angst vor der Etikettierung „süchtig“ ist für nicht wenige Betroffene das größte Hindernis, sich in Behandlung zu begeben. Sucht wird in unserer Gesellschaft als persönliches Versagen wahrgenommen. Mangelnde Selbstdisziplin, Verantwortungslosigkeit und fehlende Willenskraft sind Attribute, die wir Menschen mit problematischem Konsum gerne zuschreiben. Das ist natürlich praktisch, denn es schafft Abgrenzung. Die Süchtigen sind per se immer die anderen. In diese Ecke möchte man sich nicht freiwillig stellen. Lieber wird die Fassade aufrechterhalten, werden körperliche und seelische Schäden in Kauf genommen, als dass man sich und seiner Umwelt eingesteht, dass man ein Problem hat und Hilfe braucht.
Apropos fehlende Selbstdisziplin …
Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass Abhängigkeitserkrankungen eine Form von Charakterschwäche sind. Dazu fällt mir immer wieder ein Beispiel aus meiner Sprechstunde ein. Eine meiner Patientinnen (2), eine sehr gut situierte, gebildete und erfolgreiche Frau, sagte einmal zu mir: „Frau Esser, ich verstehe mich selbst nicht! Mein ganzes Leben war ich immer so zielstrebig. Normalerweise schaffe ich alles, was ich mir vornehme. Ich habe mein Studium in Rekordzeit absolviert, meine Firma aufgebaut, Beruf und Familie unter einen Hut gebracht, aber diese verdammte Sache mit dem Alkohol kriege ich einfach nicht in den Griff! Wie kann das sein? Was stimmt mit mir nicht?“ Nun, was meint ihr? Das ist doch ein klarer Fall von mangelnder Willenskraft und Selbstdisziplin, oder? Aber das ist doch eine Ausnahme, die sind doch nicht alle so, höre ich Euch schon widersprechen. Nein, das ist keine Ausnahme. Von meinen Patientinnen, die ich mit einer Alkoholproblematik behandle - und das sind mittlerweile ziemlich viele - haben nur zwei keinen festen Job. Eine davon ist bereits pensioniert.
Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß ...
Das Phänomen des aktiven Ausblendens finden wir nicht nur bei den Betroffenen selbst und in ihrem näheren Umfeld. Ich bin immer wieder erstaunt, wenn mir Patientinnen, die schon lange in psychiatrischer oder psychologischer Behandlung wegen Depressionen oder Burn-out-Symptomen sind, von ihrer Behandlung erzählen. Häufig wird die Frage nach dem Alkoholkonsum von den Therapeut*innen gar nicht gestellt. Das ist in etwa so, als würde ich jemanden mit Symptomen einer chronischen Atemwegserkrankung nicht auf das Rauchen ansprechen. Aber auch in der hausärztlichen Sprechstunde wird oft nur nach den Leberwerten geschaut. Sind diese in Ordnung, wiegen die Ärzt*innen sich und ihre Patient*innen gerne in trügerischer Sicherheit. Dabei ist die Leber ein Arbeitstier, das unermüdlich und ohne zu murren Giftstoffe aus unserem Körper entfernt. Die Leberwerte sind oft noch lange gut, obwohl in Wirklichkeit vieles andere schon nicht mehr so gut ist. Trotzdem steht der Substanzkonsum in der Hitliste der am wenigsten besprochenen Themen in der Hausarztpraxis wahrscheinlich an zweiter Stelle. Nur noch übertroffen von der Frage nach dem Sexualleben. Das ist schade, denn beide Themen liefern oft aufschlussreiche Informationen für die weitere Therapie. Aber auch wir Hausärzt*innen sind nicht vor den Vorurteilen gefeit, die unsere Gesellschaft gegenüber Suchtkranken hat. Indem wir befürchten, unsere Patient*innen zu brüskieren, erhöhen wir unbewusst die Schwelle zu einer Behandlung. Wenn wir nicht aktiv und einfühlsam nachfragen, trauen sich die Betroffenen oft nicht, das Thema von sich aus anzusprechen.
Zur Scham verpflichtet
Das ist sehr tragisch. Die Stigmatisierung von Suchterkrankungen erschwert nicht nur den Betroffenen den Zugang zur Behandlung, sondern führt auch zu einer Vielzahl von Problemen für unsere Gesellschaft. Ich habe Patientinnen, die ihre Therapiekosten lieber selbst bezahlen, damit ihre Krankenkasse nicht erfährt, dass sie sich in einer Suchtberatungsstelle behandeln lassen. Und es nimmt geradezu groteske Züge an, wenn sich erfolgreich Abstinente fragen, ob sie nicht doch wieder ab und zu kontrolliert trinken sollten, damit ihr Umfeld nur ja keine unangenehmen Fragen stellt. Das erlebe ich tatsächlich gar nicht so selten. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Da fühlt sich jemand in seiner Nüchternheit körperlich und emotional pudelwohl, übernimmt Verantwortung für seine Gesundheit und sein Leben - eine Fähigkeit, die wir Suchtkranken gerne absprechen - und spielt trotzdem mit dem Gedanken, das Erreichte aufs Spiel zu setzen, nur um dem Stigma des Ex-Alkoholikers zu entgehen. Was für eine verdrehte Welt! Und leider muss ich sagen, dass auch die therapeutische Zunft nicht immer an vorderster Front steht, wenn es darum geht, das Selbstvertrauen nüchterner Menschen zu stärken. Vor einigen Wochen habe ich an einem Workshop für Therapeuten teilgenommen, der den Titel „Strukturiertes Programm zur Alkoholrückfallprophylaxe“ trug. Dieses Programm besteht aus mehreren einzelnen Modulen. In einem Modul sollten die Teilnehmer Sätze erarbeiten, mit denen Abstinente eine Aufforderung zum Trinken abwehren können. Vorgeschlagen wurden Formulierungen, die eine Ausrede oder einen Vorwand darstellen. „Nein, ich darf heute nichts trinken, ich nehme Antibiotika“ oder „Nein, ich muss noch Auto fahren“. Auf meine Frage, ob man die Leute nicht einfach ermutigen könne zu sagen: „Ich trinke nicht, weil ich nicht mehr will und es nicht gut für meine Gesundheit ist“, wurde ich von den Teilnehmenden angeschaut, als käme ich von einem anderen Stern. Leider stimmt also der Spruch: „In unserer Gesellschaft hast du erst ein Problem mit Alkohol, wenn du dich entscheidest, nicht mehr zu trinken“.
I have a dream ...
Ich wünsche mir, dass wir in Zukunft einen anderen Weg gehen und Sucht als das sehen, was sie ist, nämlich eine Krankheit, die jeden treffen kann, der Suchtmittel konsumiert, und für die sich niemand schämen muss, genauso wenig wie man sich für Diabetes, Bluthochdruck oder Übergewicht schämen muss. Hoffnungsvoll stimmt mich, dass sich immer mehr Menschen an die Öffentlichkeit wagen, um ihre Geschichte zu erzählen. Darunter auch viele Prominente wie Nathalie Stüben, Daniel Schreiber und Mimi Fiedler, um nur einige zu nennen. Mutige und charismatische Menschen, die sich in Talkshows, mit ihren Büchern, Blogs und Podcasts für die Entstigmatisierung der Betroffenen einsetzen. Vielleicht erleben wir gerade eine Trendwende. Vielleicht schaffen wir es bald, das Thema problematischer Alkoholkonsum aus der Schmuddelecke herauszuholen und dorthin zu stellen, wo es meiner Meinung nach hingehört: in die Mitte der Gesellschaft.
(1) Sucht Schweiz
(2)Natürlich bin ich an die ärztliche Schweigepflicht gebunden. Bei der beschriebenen Patientin handelt es sich um ein Beispiel. . Aber in etwa so, spielt sich die Situation häufig in meiner Sprechstunde ab.