Regina • 22. März 2023

Entspannung aus dem Glas - Hilft Alkohol bei Stress?

Ein ganz normaler Tag ...

Morgens um 6:00 klingelt mein Wecker. Normalerweise wache ich schon vorher von alleine auf, dass meine innere Uhr fest auf diese Zeit programmiert ist. Zeitlich würde es auch ausreichen, erst um halb sieben aufzustehen. Aber diese halbe Stunde am Morgen ist mir heilig. Meine Ich-Zeit, wenn noch alle anderen schlafen, und keiner etwas von mir will. Wenn ich in Ruhe meinen Kaffee trinken kann, vielleicht schon mal ins Bad gehe. Diese halbe Stunde geht schnell vorbei. Und schon wenig später schalmeit es aus dem Kinderzimmer „Mamiiii!“. Mein kleiner Sohn ist aufgewacht und verlangt nach seiner obligatorischen Flasche Kakao. Ich falle in den Multitasking-Modus. Frühstück zubereiten, mich anziehen, Znüni-Box füllen, die zweite Flasche Kakao servieren, anschliessend meinen Sohn zum Zähneputzen motivieren, meine Sachen zusammensuchen, meinen Mann, der mittlerweile ebenfalls aufgestanden ist, mit einem Kuss einen guten Morgen zu wünschen und ein fertig angezogenes Kindergarten-Kind überreichen. Schliesslich haste ich aus dem Haus Richtung Busstation. Bei der Arbeit angekommen zeigt der Blick in meine Agenda, dass ich voll verplant bin. Zwischen Patienten-Terminen sammeln sich Meetings, mein Chef hat kurzfristig eine wichtige Sitzung einberufen. Meine Mittagspause verbringe ich mit einem Sandwich in meinem Büro vor dem PC und checke mein Aufgabenkonto. Herr Brunner und ein Arzt im Spital erwarten meinen dringenden Rückruf. Dann kommt auch schon die nächste Patientin. So zieht sich der Tag hin. Gegen 17:00 Uhr werde ich nervös. Ich hoffe, ich werde bald fertig und schaffe es rechtzeitig auf den Zug. Ich muss meinen Sohn abholen. Der Hort schliesst um 18:30. Aber ich möchte ihn nicht so lange warten lassen. Das schlechte Gewissen der arbeitenden Mutter regt sich. Vorher muss ich auch noch einen Sprint durch den Supermarkt hinlegen, sonst bleibt am Abend die Küche kalt. Beim Hort angekommen, springt mir mein Sohn schon freudig entgegen. Zu Hause lasse ich ihm ein Bad ein und begebe mich in die Küche, um das Abendessen vorzubereiten. „Mamiii! Ich möchte einen Apfel, aber geschnitten!“ „Ja gleich, mein Schatz.“ „Neein, jetzt! Du musst jetzt sofort kommen! Ich kann nicht warten!“ ruft er in dramatischer Tonlage. Oh my …, dabei ich habe „nur“ einen, denke ich. Wie schaffen das andere Eltern, mit zwei oder mehr? Ich räume die Einkäufe in den Kühlschrank. In der Kühlschranktür fällt mein Blick fällt auf die halb volle Weinflasche vom Vortag. Nur ein Glas zum Runterkommen, denke ich. Es entspannt so schön. Ich kann es beim Kochen trinken. Da ist nichts dabei. Das machen doch alle? Ich stelle mir vor, wie sich nach dem ersten Schluck diese wohlige Wärme in meinem Körper ausbreitet, meine Gedanken leichter werden. Aber ich hatte mir eigentlich gestern vorgenommen, heute mal keinen Alkohol zu trinken. Eigentlich ….



Kennst Du das auch? Das ist eine realistische Beschreibung meines Arbeitstages. Ausser der Weinflasche im Kühlschrank. Die lasse ich bewusst zu. Aber das war nicht immer so. Früher habe ich der Versuchung, abends ein Glas zur Entspannung zu trinken, gerne nachgegeben. Warum ich es jetzt nicht mehr mache? Ich würde gerne behaupten, es liegt daran, dass ich eine gesundheitsbewusste, verantwortungsvolle Frau bin, die sich in Anbetracht der möglichen negativen Folgen bewusst gegen den regelmässigen Alkoholkonsum entscheidet. Nein, es hängt eher damit zusammen, dass mein Mann schon beim Anblick einer Flasche Wein eine Migräne-Attacke erleidet, und ich auf Dauer nicht gerne alleine trinke. Aber es hat sicherlich auch einen Einfluss, dass ich mich aus beruflichen Gründen mit dem Thema sehr befasse. Ausserdem erlebe ich im familiären Umfeld gerade hautnah, wie einer meiner liebsten Menschen an den Folgen seiner langjährigen Alkoholerkrankung leidet. Ich kann den Wein einfach nicht mehr bedenkenlos geniessen. 


Stressfaktor Alkohol


Aber zurück zum Thema. Wieso hilft uns Alkohol scheinbar bei der Stressbewältigung? Was sind die Mechanismen, und welche Gefahren birgt diese Strategie? Alkohol wirkt in unserem Gehirn an den GABA-Rezeptoren. Bei GABA handelt es sich um einen Botenstoff, der die Erregung der Nervenzellen hemmt. Ausserdem drosselt Alkohol anfänglich die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol. Wir fühlen uns ruhig und entspannt. Leider nimmt dieser Effekt schnell ab. Wenn wir regelmässig trinken, verkehrt er sich sogar ins Gegenteil. Nach etwa zwei Stunden schüttet unser Körper wieder mehr Cortisol und Adrenalin aus. Auf den überschiessenden GABA Effekt reagiert er langfristig mit einer Abnahme der GABA-Rezeptoren. Das bedeutet, trinken wir plötzlich weniger oder gar nicht mehr, fällt die dämpfende Wirkung von GABA weg. Wir sind nervös und gereizt. In schweren Fällen kann diese Übererregung des Nervensystems zu epileptischen Anfällen führen. Die Gefahr besteht vor allem, bei denjenigen, die mit Entzugssymptomen reagieren, wenn sie ihren Körper nicht rechtzeitig wieder mit Alkohol versorgen. Die direkte Wirkung, sowie der Abbau von Alkohol, der unserem Stoffwechsel viel abverlangt, setzen unseren Körper unter Dauerstress. Wir verlieren unsere Widerstandskraft, sind chronisch gereizt und müde. Und häufig reagieren wir auf diese Warnsymptome wieder mit mehr Alkohol. Ein Teufelskreis. Es besteht eine enge Verknüpfung von chronischem Stress, Burn-out und Alkohol. 



Glücklicherweise kann sich das angeschlagene System erholen, und der Verzicht auf Alkohol bewirkt in der Regel eine Normalisierung der Stressregulation. Aber es braucht seine Zeit. Da heisst es durchhalten und Geduld haben. Alle meine Patientinnen berichten ausnahmslos, dass sie sich in den Phasen absoluter Abstinenz so gut wie nie zuvor gefühlt haben. Hierzu passt das Zitat aus einem Ratgeber über Alkohol: „Der Alkoholiker trinkt, damit er sich fühlt wie jemand, der nie trinkt.“ Das Wort Alkoholiker mag ich nicht. Die Gründe werde ich in einem zukünftigen Beitrag erläutern. Aber dem Rest kann ich voll und ganz zustimmen.


Eine neue Strategie muss her ...


Aber ein Problem bleibt. Wenn Dir Alkohol hilft, Dich zu entspannen, aber du mit dem Trinken aufhörst, dann ist der Stress ja nicht auf einmal verschwunden. Du bist vielleicht nicht mehr so empfindlich, aber die Belastungen in deinem Alltag werden ja nicht weniger. Du brauchst neue Bewältigungsstrategien, damit Du in Stresssituationen nicht wieder in Dein altes Verhaltensmuster fällst. Hier gibt es keine allgemein gültigen Empfehlungen. Wichtig ist aber, dass Du darauf achtest, ein ungesundes Laster nicht durch ein neues zu ersetzten. Wer mit dem Trinken aufhört und dafür drei Päckchen Zigaretten pro Tag raucht, hat wenig gewonnen. In meinen zukünftigen Beiträgen werden ich Dir Möglichkeiten vorstellen, die Dir beim Stressabbau helfen können, so dass Dir der Verzicht auf Alkohol leichter fällt.



Welche Strategien nutzt Du zur Stressregulation? Was kannst du für die Anwendung im Alltag empfehlen? Ich freue mich, auf Dein Feedback!